Nüchternheit

„Wir wollen nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein.“

 Diese Mahnung des Apostels Paulus macht uns zunächst ratlos: Ist Nüchternheit wirklich ein Wert für Christen? Umgangssprachlich ist ein nüchterner Mensch jemand, der die Realität wahrnimmt und nur das, was sich beweisen lässt, anerkennt. Oft bezeichnet man auch Menschen, die keinen Sinn für Geistiges, Künstlerisches oder Religiöses haben, als nüchtern.

Aber ist es das, was Paulus meint? Nüchternheit bedeutet Wachheit, Aufmerksamkeit, bei den Dingen und beim anderen sein. Diese Haltung ist nicht einfach, denn zunächst sind wir immer bei uns. Ein nüchterner Mensch ist fähig, die Subjektivität der eigenen Perspektive zurückzunehmen, anderen und Dingen mit der Bereitschaft etwas zu empfangen entgegenzutreten und nicht nur mit der Frage: Wozu kann ich es oder ihn brauchen? Nüchternheit bedeutet anzuerkennen, dass unsere Bilder von uns selbst, vom anderen und von Gott immer wieder zertrümmert werden müssen.

Was ist das Gegenteil von Nüchternheit? Natürlich Trunkenheit, aber im übertragenen Sinn auch jede Art von Realitätsblindheit. Nicht nüchtern ist ein Mensch, der dem Innenaspekt des eigenen Verhaltens blind vertraut, der naiv an die Kraft der eigenen guten Intention glaubt, der nicht weiß, dass auch er irren kann, der natürliche Vorgänge allzu schnell religiös überhöht:

  •  Der Wunsch, andere ständig zu erziehen ist nicht schon Nächstenliebe oder Eifer für Gott
  •  rein vitale Zuversicht ist nicht dasselbe wie Gottvertrauen
  •  eine Depression ist noch keine von Gott verhängte dunkle Nacht
  • ein zufälliges Zusammentreffen von Ereignissen braucht keine Privatoffenbarung zu sein
  • nicht jeder Gedanke, der mir im Gottesdienst kommt, ist eine Erleuchtung.

Ohne Nüchternheit hält man subjektive Eindrücke für Beweise und bildet aus ihnen feststehende Überzeugungen. Allen Einwänden gegenüber hält man am eigenen „Spüren“ als zuverlässigem Kriterium fest - „postfaktisch“ wie man heute sagen würde.

Es ist ungeheuer wichtig für das geistliche Leben zu lernen, die Dinge, auch das, was in uns selbst ist, beim richtigen Namen zu nennen, denn jede Form von Unechtheit entfremdet uns von Christus. Nüchternheit besteht darin, ständig die eigene Gebrochenheit einzubeziehen und damit zu rechnen, dass die Dinge anders sind, als sie mir erscheinen. Nüchternheit ist also Klarheit des Denkens, das stetige Prüfen eigener und fremder Lebensäußerungen auf dem Hintergrund der Verheißungen Gottes. Nüchternheit ist eine eschatologische Tugend. Sie ist angebracht, weil unser Leben noch nicht am Ziel ist. Es geht darum, alle unsere Bestrebungen auf Gott hin zu ordnen und so „nüchtern, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben, während wir auf die selige Erfüllung unserer Hoffnung warten: auf das Erscheinen der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Retters Christus Jesus“ (Tit 2,12f). Ich glaube, diese Nüchternheit braucht die Welt gerade heute von uns Christen.

 Äbtissin Christiana Reemts, Abtei Mariendonk