Gedanken zu einer Meditation in der Christmette 2014

Die Gegenwart der Menschheit ist geprägt von tiefen Konflikten, die alle Anzeichen größter Unversöhnlichkeit an sich tragen. An Brennpunkten des Geschehens wird mit einer solchen Unmenschlichkeit und Brutalität vorgegangen, wie man es nicht für möglich halten möchte, wenn man allen Menschen unterstellt, dass sie das eigene Leben lieben und das der Andern zumindest achten. Aber beides ist nicht mehr vorhanden. Das Wort „Rücksicht“ verschwindet allmählich aus dem Wortschatz der Menschen. Rücksicht umfasst Achtung, Ehrung, Respekt und Liebe. Wo sind diese Tugenden geblieben?

Unser Christentum bringt es mit sich, dass der Konflikt Israel – Palästina unsere besondere Aufmerksamkeit hat. Dieser Konflikt geht bis ins 19. Jahrhundert z. Zt. der osmanischen Regierung im Nahen Osten zurück und schwelt seitdem, um immer wieder in Kriege und Terroraktionen ungeahnter Heftigkeit auszubrechen. Alle Seiten haben Recht, alle Seiten haben Unrecht! Es bewegt sich nichts – nur die sich unablässig drehende Spirale der Gewalt, die Tod und Trauer mit sich bringt.

Dieser schier unlösbare Konflikt kann uns helfen, das Weihnachtsgeschehen zu deuten – welch eine Anmaßung und welch ein verwerflicher Versuch! Und doch können wir das Verhalten der Menschen zueinander und zu Gott in der Jahrtausende langen Geschichte nicht anders deuten als ein dauernder Konflikt, der auf der einen Seite immer mehr Abgötter und Gegengötter, mehr Gotteshass und moralische Verwerflichkeit und auf der anderen Seite den Zorn Gottes mit Unterwerfung durch Fremdvölker, Unterdrückung, Vertreibung und Tod hervorgerufen hat. Das Alte Testament hat den Zorn Gottes geschildert und mit seinem Eifer gedroht, so sehr, dass seine Liebesbotschaft nicht mehr wahrgenommen werden konnte. Aber sie war da, sie war immer da! Das Volk hat auf beides nicht gehört. Die Welt kann sich auf den Kopf stellen: Israel und Palästina hören nicht zu.

Gott sei Dank! Gott selbst hat nachgegeben, indem er von sich aus den Menschen die Hand gereicht hat. Er will, dass unser Konflikt ein Ende hat. Wir sollen neu anfangen, von vorne ganz neu. Das Zeichen dieser Versöhnung über alle Gräben hinweg ist die Sendung seines Sohnes. Er ist der Sohn des Josef und der Maria. Der Evangelist Lukas bietet uns in Lk 3,23-38 einen Stammbaum des Josef, der über 46 Generationen zurück bis zu David, über weitere 34 Generationen bis zu Adam zurückreicht, bis zu Adam τοῦ θεοῦ, „der von Gott ist“ (Lk 3,38). Gewiss, diese Christologie erscheint noch sehr primitiv, aber sie vermag in einleuchtender Weise klar zu machen, wer dieser Jesus ist: Menschensohn, weil Sohn des Josef; Sohn Gottes, weil Sohn des Adam, der von Gott ist. In diesem Menschen-Gottes-Sohn löst Gott alle Konflikte auf, die zwischen ihm und uns Menschen bestanden. Das ist jetzt so, auch wenn wir schon so oft dieses einzig mögliche Friedensangebot abgewiesen haben und immer wieder abweisen. Weihnachten lehrt uns, dass Gott sich selbst in die Pflicht genommen hat und bei seinem Angebot bleibt. So ist für uns das Jesuskind in der Krippe das, was der Regenbogen für Noah war, mehr noch, viel mehr noch!  

Prof. em. Dr. Heinz Josef Fabry, Bonn