Leben nach der Weisheit des Hl. Benedikt im Heute Gottes

 Wir Ordensfrauen und –männer verstehen bis heute die Regel des Hl. Benedikt als einfache, klare Auslegung des Evangeliums. Die Regel spricht uns an als Töchter und Söhne in unseren Herkunftsfamilien und in allen Facetten unserer Lebenserfahrungen und Beziehungsgestaltungen. Wir wagen geduldig im Alltag einen Weg der Menschwerdung unter Gottes liebendem Blick. Das Regelbüchlein verstehe ich als eine verdichtete Schule des Lebens mit Jesus, dem Christus. In der hohen Wertschätzung der Hl. Schrift bleiben wir mit den jüdischen Geschwistern untrennbar verbunden im Umgang mit der Thora, den Weisungen Gottes für gelingendes Leben.

Zwanzig Jahre nach der Zeitenwende wanderte Jesus - wie viele Rabbis zu jener Zeit - mit seinen Jüngerinnen und Jüngern durch seine Heimat. Sie wuchsen zusammen zu einer Wanderschule des gemeinsamen Lebens. Ich stelle es mir vor wie ein ‚Pilger-Kloster‘ unter Gottes freiem Himmel. Die Schülerinnen und Schüler, die mit Jesus durch das Galil nach Jerusalem zogen, waren Erwachsene. Ebenso nahm Benedikt in seine ersten Gründungsklöster nur erwachsene Brüder auf, er brauchte sie in dieser Reife und in ihren Qualitäten von verantwortlichem Denken, Sprechen, Schweigen und Handeln.

Die Novelle von Luise Rinser ‚Geh fort, wenn du kannst‘ hatte mich schon vor meinem Eintritt in die Communität vor 25 Jahren fasziniert. Unter uns sechs Novizinnen wurde dieses geliebte Buch gehütet und weitergereicht. In dieser tiefsinnigen Berufungsgeschichte zur Benediktinerin erzählt Luise Rinser, wie die junge Medizinstudentin und kommunistische Widerstandskämpferin Angelina in den italienischen Partisanenkämpfen des 2. Weltkrieges ein zerstörtes Kloster entdeckt. Angelina kann sich Gottes Anruf nicht entziehen, sie wird von der tiefen Kraft des Bleibens so ergriffen, dass sie zwar fort will, aber nicht kann. Als die Äbtissin nach den Kriegswirren zurückkehrt, bittet sie Angelina darum zu bleiben und sagt, sie wolle gesunde, ruhige, vernünftige Leute in ihrem Kloster. Das innere Ringen von Angelina wird bewegend geschildert, auch der schmerzliche Abschied von ihrem Freund, dem Führer der Partisanengruppe. „Ja“, erzählt später Angelina, „ich habe ihn geliebt und auf meine Weise liebe ich ihn noch. Ich werde ihn immer lieben. Aber was ist dies alles, die Liebe und der Schmerz, gegen die Freude der Taube, die des Vogelstellers Schlinge entronnen ist und ihr Nest gefunden hat?“

 Schon im Prolog, dem Vorwort der Regel, denkt Benedikt an die Menschen, die sich nur schwer in eine Gemeinschaft integrieren wollen und denen die Kraft zum Durchhalten ausgehen könnte. Er will sie nicht belasten, die Gottsucher, die sind, wie sie sind. Denn sie suchen Gott von ganzem Herzen und ganzer Seele mit aller ihrer Kraft. Jede und jeder hat eine große Lebensentscheidung getroffen und bleibt im kleinen, unbedeutenden Alltag unterwegs: kraftvoll und verletzlich, überbehütet und vernachlässigt, gesund und krank.

Benedikt setzt Grenzen in seiner Regel und vertraut auf die innere Lebenskraft der Ordensleute: Mit dieser Kraft können tief verletzte oder unter Gewalt aufgewachsene Menschen sich ihren Lebenskrisen stellen und sie durchstehen. Benedikt hatte Mitbrüder, die in Sklaverei geboren waren und Misshandlungen überlebt hatten. Andere Brüder gehörten durch Geburt in die adelige Herrschaftsschicht. In der für damalige Zeiten ganz neuen klösterlichen Ordnung verlieren Projektionen von Macht und Ohnmacht ihre Wirkung, wenn in der Seelensorge das Neue und Befreiende erkannt wird.

Benedikt bindet sich in seiner Sprache und in seinen Bildern ganz dicht ans Evangelium: Jesus sah die Menschen an und gewann sie lieb. Jesus kannte sie wie ein Hirte und trug auch die Einzelnen in gerechter Sorge, achtsam und maßvoll. Und Jesus lehrte seine Jüngerinnen und Jünger unermüdlich das Wesen Gottes in Seiner Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Wie Handwerker des Klosters ihr Handwerkszeug als heiliges Altargerät behandeln, so erwartet Benedikt von seinen Brüdern, dass sie einander sehen und achten wie kostbare, anvertraute Gefäße Gottes. In der Profess vertrauen wir uns einander an auf Lebenszeit.

Für das spätantike Klassensystem und Autoritätsverständnis scheinen manche Verse der Regula aus dem 6. Jhdt. überraschend ‚anti-autoritär‘. Wie Jesus Christus soll die und der Obere eines benediktinischen Klosters einfach und bescheiden mit Gott gehen und die auf Zeit anvertraute Herde schützen und leiten. Je nach Begabung übernehmen reifere Brüder die Mitverantwortung für die Grenzen des Einzelnen und den schützenden Rahmen des geistlichen Lebens. In den Laudes am Sonntag singen wir Psalm 147. Mich berührt immer wieder der Vers:

Denn er hat die Riegel deiner Tore gefestigt,

die Kinder in deiner Mitte gesegnet.

Er umgibt dein Gebiet mit Frieden,

er sättigt dich mit bestem Weizen.

Die Lebenserwartung im 6. Jhdt. in Italien war gering. Die Säuglingssterblichkeit betrug wohl 50 %, Rom war von Malariasümpfen umgeben, Kranke und uneheliche Kinder wurden ausgesetzt. Eine kleine Gruppe der Ordensleute erreichte wohl das Alter, das wir heute ‚Lebensmitte‘ nennen oder ‚aktiven Ruhestand‘. Ein Mann oder eine Frau, die über 60 Jahre alt war, galt als hochbetagt und weise. Das Überleben damals war bedroht von Pest, von Seuchen und Kriegen. Immer wieder brachen Völker ein und verwüsteten die Dörfer und Ländereien. Die Hungersnöte waren so furchtbar wie die aktuellen Katastrophen in Westafrika durch die Ebola-Seuche und Terrorkämpfe im Irak und Syrien. Mich erschüttern die Bilder aus den Flüchtlingslagern der jesidischen Familien. Wir leben heute in unserer Heimat Deutschland so sicher, wie nie zuvor.

Das macht mich still und zutiefst dankbar. Unsere Communität, unsere Familien, wir alle dürfen leben im Frieden, für uns gilt schon heute die Vision des Hl. Benedikt vom Frieden. Ich wünsche uns in unserem Land die Kraft, diesem Frieden zu folgen, ihn zu schützen und zugleich unsere Türen zu öffnen für Flüchtlinge und Heimatlose. Wir leben aus dem Vertrauen, dass Gott unsere Häuser mit Frieden umgibt, das sei uns geschenkt im Heute Gottes.

 Priorin Friederike Immanuela Popp Communität Casteller Ring